Predigt über Joh 15,1-8 zum 3.Mai (Pfr. Sokol)

Predigt über Joh 15,1-8 zum 3.Mai (Pfr. Sokol)

3. Mai 2020 (3. Sonntag nach Ostern)

 

Predigt zu Johannes 15,1-8 (Christus, der wahre Weinstock):

 

Liebe Gemeinde,

was mich derzeit so richtig belastet, ist ein für mich neues „Lebensgefühl“. Dass alle Dinge einer ständigen Entwicklung und Veränderung unterliegen, das weiß ich wohl. Und dass in vielen Ländern unserer Erde, Krieg, Zerstörung und Tod herrschen, ist mir auch nicht neu. Und das alles, was wir tun, gewissermaßen seine „Energie“ aus dem Geld zieht, ist ebenfalls keine neue Weisheit. „Geld regiert die Welt!“ Ganz gleich, ob wir zu Hause bleiben sollen oder nicht!

 

Nein, das wirklich „neue Lebensgefühl“ ist für mich die Wahrnehmung, dass alles auch ganz anders sein könnte! Jeder Tag bietet nicht nur Neues, er ist auch völlig „neu“, unkalkulierbar, unabsehbar und vor allem ganz schlecht planbar! Von Tag zu Tag - so geht mein Leben dahin, so fühlt sich das für mich an. Keine echte Ordnung, keine wirkliche Struktur, viele Termine und vielfältige Anforderungen, aber kaum ein verlässlicher Rahmen. Und eine beständige innere Spannung, was denn der nächste Tag bringen werden. Es ist ein Leben „im Nebel“ und es ist ein Stochern mit dem Ruderholz, wie auf einem Kahn im Wasser, ohne das Ufer zu sehen. Manchmal sage ich im Scherz zu meiner Frau, so wird der Ruhestand sein. Wenn ich dem Tag keine feste Form gebe, hat er vermutlich auch keine – eine beachtliche Aufgabe, die viel Kraft kostet! Hut ab vor jedem, der dies gut meistert!

 

Vielleicht ging es so auch den Christinnen und Christen der jungen Gemeinde. „Christus ist auferstanden“, so ihre Erfahrung, aber sie blieben da in der Welt, sie mussten sich fortan selbst organisieren. Sie hatten nicht Jesu Blick auf die Zukunft und keinen mehr, der ihnen sagen würde, wo es nun „langgehen“ sollte. Zwar hatten sie den Geist Gottes, sie hatten Glaube, Liebe und Hoffnung, aber sie mussten „erwachsen“ werden und fortan ihre Geschichte auf Erden selbst in die Hand nehmen.

 

Vielleicht erinnerten sich an das Wort vom Weinstock – und das gab ihnen neue Kraft und neue Zuversicht! In diesem Bild ist Jesus die feste Größe, er ist der Weinstock, fest verankert im Boden des Lebens, er ist die Quelle des Daseins für hier und heute und in Ewigkeit zugleich.

 

Und die, die ihr Vertrauen auf ihn setzen, sind die „Reben“, die guten Trauben, die vom Weinstock ihre Kraft und letztlich ihr Dasein und Funktion erhalten. In unserer „verzweckten“ Welt ist die „Rebe“ das, was wir „haben wollen“, sei es zum Essen oder als Grundlage für Saft oder Wein. Wir trennen also die Rebe bewusst vom „lebensschaffenden Weinstock“, wir zerstören damit ihr Dasein, um uns davon ernähren und daran freuen zu können.

 

Für Jesus ist dieses Bild nicht dazu geeignet, einen Zweck der Rebe für den „Konsum“ zu finden, sondern sein Bild meint, wer mit Gott verbunden sei, der habe eben Halt und Kraft, Sinn und Ziel in allem, was sein Leben und sogar Sterben ausmacht. Und hier zeigt sich für mich auch ein Problem der Dinge: wir sind gewohnt, die Welt oft nur als „Konsumgut“ (als „Verbraucher“) zu sehen, unsere Pflanzen und Tiere haben uns zur Nahrung zu dienen, zumindest haben wir einen Herrschaftsanspruch über sie – so glauben wir. Die Welt ist für uns also nicht „Zweck und Schönheit an sich“, sondern nur dann „wertvoll“, wenn wir uns an ihr  „bedienen“ können. Das mag ein Gesetz des Lebens sein, dass alles, was ist, von anderem lebt. Dass einer sein Leben lassen muss, dass der andere weiter existieren kann.

Und dennoch, Jesu Bild ist noch einmal jenseits von „Brauchen und Nutzen“ gezeichnet. Für ihn ist die vorrangige Gottesbeziehung der entscheidende Motor und die Energiequelle des Lebens! Alles Leben lebt durch die Kraft, die Gott uns schenkt in, mit und durch Jesus Christus, dem Sohn Gottes!

 

Im Kern ist das eine ganz alttestamentliche Theologie, die Gottesliebe ist das Wichtige im Leben und die daraus resultierende Nächstenliebe (Lukas 10 Der barmherzige Samariter)! Und noch ein Drittes, die Einübung, sich selbst zu lieben, sich zu akzeptieren und daran „weise“ zu werden, die vielleicht schwierigste Aufgabe! Die Griechen hatten sicherlich recht mit der Aufschrift über dem Orakel von Delphi: „Erkenne dich selbst!“ - eine schwere Lebensaufgabe.

 

Jesus spricht das so aus, dass die Reben ihre eigentliche Aufgabe und Kraft immer dann finden werden, wenn sie an ihm bleiben, wenn sie mit ihm verbunden sind auf Dauer!

 

Zugleich ist das Bild vom Weinstock und seinen Reben auch verstörend: „Reben“, die abgerissen sind vom Weinstock verdorren und werden weggeworfen und verbrannt. Im Spätmittelalter hat man hier eine Höllenszene deuten wollen, wer sich trennt vom Leib der Kirche, der ist eben verloren, ja im schlimmsten Fall wird er schon zu Lebzeiten verbrannt (Ketzerei), nicht erst in Ewigkeit.

 

Davon lesen wir im biblischen Text nichts! Das Bild macht deutlich, dass die Rebe den Weinstock braucht, denn von ihm her kommt ihr der Lebenssaft zu, wie einem ungeborenen Kind das Leben durch die Nabelschnur der Mutter. Es geht also um Beziehungen im engsten Sinne! Verbunden sein miteinander, das ist das tiefe Geheimnis des Reiches Gottes! Wer mit anderen im Glauben verbunden ist, glaubt nicht allein, lebt nicht allein, sondern ist, wie der Apostel Paulus formuliert hat, Teil des „Leibes Christi“, ist selbst ein Glied daran, ist Hand, Fuß, Mund oder anderes.

 

Und die ganze Kraft des Glaubens wird dort erfahrbar, wo ich nicht allein bleibe, sondern Gemeinschaft pflege! Das Christentum war nie als subjektive Einzelglaubensveranstaltung gedacht, sondern das Miteinander mit Jesus eröffnet das Miteinander in der Gemeinde!

 

Und schließlich zeigt uns Jesu Bild noch eine zentrale Aufgabe unseres Daseins als Christinnen und Christen. Indem wir leben, soll Gott „sichtbar“ werden. Unser Leben soll dazu dienen, ihm Ehre zu geben, unser Dasein soll Lob und Dank verkörpern! Christus soll durch uns erkennbar und wirksam werden in der Welt. Wir sind seine Arme und Beine, seine Hände und sein Mund! Was für eine Aufgabe und was für eine Bürde und Würde gleichermaßen!

 

Also, was ist zu tun? Welche Programme und Projekte sind jetzt nötig, um diesem Anspruch gerecht zu werden? Welche „Rettungsprogramme“ sind für die Welt und unsere Gesellschaft aufzulegen?

 

Jesu Antwort ist so einfach wie überraschend: „Was ihr dem Geringsten dieser meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40) Also „Rebe“ am Weinstock sein bedeutet, im Anderen den Christus erkennen wollen und ihn so behandeln, wie es Christus entsprechen würde. Frage nicht, wer ist mein Nächster, sondern sei du immer schon deinen Mitmenschen ein Nächster! Mehr ist nicht zu tun, aber auch nicht weniger!

 

Pfarrer Dr. Bernhard Sokol